Dienstag, 9. Juli 2013

Pseudo-Philosophie aus dem Busfenster betrachtet (in Brandenburg)

Wenn unser Zeitalter ein Symbol bräuchte, fiele meine Wahl wohl auf das Windrad, das zur Stromerzeugung dient. Es stellt für mich eine Melange aus Stillstand und Fortschritt, aus Reformierung und konservativen Werten, aus Hoffnung und Ernüchterung dar.
Wie Giganten stehen diese Ungetüme in Seeparks, auf Feldern und vielen anderen Orten unserer Erde herum und beobachten das Land. Manche allein, manche in Gruppen und gerade auf See trifft man die stummen Riesen gerne in gewaltigen Ansammlungen.
Ihre zumeist langsam drehenden Räder und das regelmäßige Leuchten erinnern mich an einen alten Menschen, der am Fenster sitzt und nach draußen schaut, während er routinierte Tagesabläufe pflegt - essen, rauchen, das Gute-Nacht-Bier, der Plausch mit den Nachbarn - alles Routine.
Und zwischendurch wird alles beobachtet. Das macht das Windrad auch zu etwas Warnendem. Wie der alte Mensch vielleicht ein Kind des Wirtschaftswunders, des Wiederaufbaus oder auch des Krieges ist, so ist der graue Riese eine Geburt der Energierevolution und beide stehen für ihre Zeit und mahnen vor dem, was vor ihnen war und was in ihrer Zeit beendet wurde.

Der einzige Unterschied ist, dass die Zeiten der Energiewende noch nicht vollends vorüber sind. Was das betrifft, verkörpert unser sich ewig drehender Freund nicht nur einen Status sondern auch Progression oder zumindest einen Prozess.
Ob es sich nun um ein Symbol handelt, das die Energiewende überleben wird, oder ob das stromerzeugende Windrad in einhundert Jahren als fulminanter Fehlgriff belacht wird, können wir nicht sehen - aber wir sehen die Räder jetzt und sie drehen sich immerzu weiter.
So gesehen ist die Geschichte der Windkraft gar nicht mehr so neu, denn schon zu Kriegszeiten wurden im Norden Europas Windmühlen benutzt, um Strom zu generieren. In der friedlicheren Hälfte des 20. Jahrhunderts (aus westeuropäischem Standpunkt) konnte die Technologie dann Windkraft für die Arbeit des Müllers und für die Erzeugung von Elektrizität trennen und der weitere Fortschritt brachte uns inzwischen High-End-Maschinen, die, überall wo sie können, Hoffnung und Zeichen für die Energiewende zu setzen scheinen.

Betrachtet man es so, finde ich es aber wieder schwammig, ob diese Hoffnung denn berechtigt ist. Ständige technologische Progressionen an einer Idee, die in den 1940er Jahren eher eine Notlösung war, brachten uns schon vieles und die "New Frontier" der erneuerbaren Energieformen ist noch gewaltig. Aber wenn ich auf weitem Felde die grauen Betontürme und ihre drei langsamen Arme ansehe, überkommt mich ein kalter Schauer.
Es ist, als würde die graue, melancholische Aura des Rades fragen, ob wir nicht doch seit fast einem Jahrhundert auf das falsche Pferd setzen oder ob all unser Bemühen nicht doch nur Sisyphos' Weg zum Gipfel ist.
Wie auch unser Zeitalter, das sich auch alten Traditionen zusammensetzt und sich selber als Moderne bezeichnet; welches die Zukunft in der Gegenwart verspricht, ohne die Gegenwart der Zukunft anzuerkennen; was reformativ aussieht und dennoch vielleicht schon bald in einer ferneren Zukunft als zweites dunkles Mittelalter denunziert wird; so stehen auch die Windräder, drehen ihre Blätter, stellen sich gegen den Wind der Ideen, erzeugen den Strom, den wir benötigen und stehen fest verankert mit ihrem einzelnen Fuß in der Mitte des Fortschritts.
Camaleonte